Die Stabilität der Stromversorgung basiert darauf, dass Erzeugung und Verbrauch im Gleichgewicht bleiben. Damit Betriebsmittel innerhalb ihrer technischen Grenzen bleiben, brauchen Netzbetreiber ein präzises Bild des aktuellen und künftigen Strombedarfs. Strategisch platzierte Messpunkte, intelligente Auswerteverfahren und passende IT-Lösungen können Lastflüsse direkt messen oder zuverlässig schätzen.
Mit der Elektrifizierung von Wärme und Mobilität wird bekanntlich das klassische, einheitliche Verbrauchsverhalten vieler Kundengruppen brüchig. Der Strombedarf einer Wärmepumpe hängt von Gebäude, Außentemperatur und Nutzerverhalten ab, der einer Wallbox vom Mobilitätsprofil. Photovoltaikanlagen und Batteriespeicher ermöglichen Eigenversorgung und Einspeisung, wechselnde Wetterlagen führen zu stark schwankenden Einspeisungen und Verbräuchen. Künftig braucht es daher entweder deutlich differenziertere Profile oder mehr Messpunkte im Netz.
Messwerterfassung durch intelligente Messsysteme
Messstellen sollten dort gesetzt werden, wo sie für die Bewertung des Netzzustands den größten Mehrwert bringen. Ein Quartier mit Mehrfamilienhäusern, wenig Parkplätzen und Fernwärmeversorgung lässt sich wahrscheinlich auch künftig gut über standardisierte Profile und eine Messung in der Ortsnetzstation abbilden. In einem Einfamilienhausgebiet mit individuellen Heizungssystemen und vielen Ladepunkten sind die Verbräuche dagegen deutlich heterogener. Dort genügt ein einzelner Messwert nicht mehr.
Eine Schlüsselrolle spielt die Messwerterfassung durch intelligente Messsysteme (iMSys). Sie dienen nicht nur der Verbrauchsmessung, sondern sind ausdrücklich auch für Netzzustandsdaten vorgesehen (Tarifanwendungsfall 10). Aktuell sind jedoch erst rund drei Prozent der Zählpunkte mit intelligenten Messsystemen ausgestattet. Angesichts des seit 2016 geltenden Messstellenbetriebsgesetzes ist das wenig – positiv ist allerdings, dass die Zahl der Messpunkte für Netzzustandsdaten nun stetig wächst.
Projektteilnehmer von "AMAZING"
Mit den zusätzlichen Daten entstehen neue Möglichkeiten. Um diese systematisch zu erschließen, haben sich im Projekt „AMAZING – Automatisierte Modellierung, Analyse und Zustandsschätzung mittels intelligenter Netzalgorithmen und Graphenmethoden“ Partner aus Energiewirtschaft und Forschung zusammengeschlossen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) fördert die Projektidee mit 4,1 Millionen Euro.
Konsortialführer sind die Stadtwerke Karlsruhe. Zum Konsortium gehören außerdem das FZI Forschungszentrum Informatik, das Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Fichtner IT Consulting und retoflow sowie mehrere Verteilnetzbetreiber unterschiedlicher Größe und Struktur (Albwerk, Stadtwerke Bühl, Stadtwerke Karlsruhe, Stadtwerke Karlsruhe Netzservice, Heidelberg Netze und ÜZ Mainfranken). Verstärkt wird das Konsortium durch assoziierte Partner aus der Mess- und Netztechnik.
FZI und KIT entwickeln als Forschungspartner Algorithmen, die aus den Daten der Netzbetreiber maximalen Mehrwert generieren. Ein Schwerpunkt ist der Aufbau digitaler Zwillinge, die den aktuellen Netzzustand möglichst genau abbilden.
Fichtner IT verantwortet als Softwarepartner den Datenaustausch und entwickelt eine spezialisierte Energiedatenplattform. Eine Kernaufgabe ist die Homogenisierung der sehr unterschiedlichen Datenbestände. Trotz verschiedener Quellsysteme sollen die Partner mit einem einheitlichen "Look and Feel" arbeiten. Das ermöglicht den Einsatz identischer Algorithmen, macht Ergebnisse vergleichbar und verbessert die Skalierbarkeit.
Retoflow bringt als zweiter Softwarepartner Lösungen zur Visualisierung von Netz- und Energiedaten sowie Unterstützung von Anschlussplanung, Zielnetzplanung und Netzbetrieb ein.
Phasen 1, 2 und 3
Seit Oktober 2024 läuft das auf 36 Monate angelegte Projekt. In Phase 1 werden alle erforderlichen Daten integriert, darunter Netzinformationen aus Geoinformationssystemen (GIS), Stammdaten zu Anlagen und Verbrauchern sowie Summen- und Zeitreihendaten aus registrierender Leistungsmessung und intelligenten Messsystemen. Zudem werden Messtechnik und intelligente Messsysteme für Echtzeitdaten angebunden.
In Phase 2 entstehen darauf aufbauend Algorithmen, die aus den verfügbaren Daten digitale Zwillinge der Netze erzeugen. Diese Verfahren berechnen automatisiert und tagesaktuell Netzmodelle, die den Stand der Daten in den Quellsystemen widerspiegeln. Durch das Verschneiden der Datenquellen wird außerdem eine automatisierte Plausibilitätsprüfung möglich, die die Datenqualität in GIS- und ERP-Systemen verbessert.
In Phase 3 werden aus den Erkenntnissen konkrete Lösungen für den Alltag der Netzbetreiber entwickelt. In fünf Anwendungsfällen wird gezeigt, welchen Mehrwert digitale Zwillinge bieten. Beispiele sind die effizientere Bearbeitung von Netzanschlussbegehren, die langfristige Netzplanung und ein digitalisierter Netzbetrieb mit Netzzustandsschätzung, 72-Stunden-Prognose und präventiven Maßnahmen.
Zentrale Erkenntnisse
Aus der ersten Projektphase lassen sich für das Thema Datenplattform zwei zentrale Erkenntnisse ableiten. Erstens sind durchdachte und einheitliche Datenmodelle sowie standardisierte IT-Schnittstellen entscheidend. Schon früh zeigte sich laut den Projektteilnehmern, dass die Daten aus den Quellsystemen der Netzbetreiber sehr heterogen und teilweise unvollständig sind. Strukturierte Integration ist daher unverzichtbar und die Basis für Skalierbarkeit.
Zweitens unterscheiden sich Datenhaltung, Verfügbarkeit und Qualität deutlich zwischen den beteiligten Netzbetreibern. Die im Projekt entwickelten generalistischen Datenmodelle und Datentransformationsalgorithmen könnten damit zu einem wichtigen Baustein für die Digitalisierung der Energiesysteme werden.
Vorstellung der Ergebnisse
Die Ergebnisse aus "AMAZING" werden in Webinaren vorgestellt. Den Auftakt macht ein Beitrag in der Reihe "sw.aktiv" am 2. Dezember 2025 (hier geht es zur Anmeldung).


