Ministerpräsident Lies: "Wir brauchen jetzt keinen Neustart der Energiewende"
Als Union und SPD über das Energiekapitel des Koalitionsvertrags verhandelten, spielte Olaf Lies als Leiter der SPD-Arbeitsgruppe Klima und Energie eine entscheidende Rolle. Inzwischen ist der 58-Jährige Ministerpräsident des Energiewende-Vorreiterlandes Niedersachsen. Ein Gespräch über Lehren des Monitorings, die Sinnhaftigkeit von Gasbohrungen vor Borkum und die Frage, wie sehr die Koalition tatsächlich bereit ist, Dinge in der Energiepolitik radikal anders zu denken.
Herr Lies, die Gutachter des Energiewendemonitorings haben der Bundesregierung eine ganze Reihe von Handlungsbedarfen aufgezeigt. Was ist aus Ihrer Sicht jetzt am wichtigsten?
Die Energiewende ist ein Marathonlauf, aber sie braucht jetzt klare Prioritäten. Alle beteiligten Akteure benötigen vor allem Planungssicherheit. Der Monitoringbericht zeigt einen Bedarf von 700 Terawattstunden im Jahr 2030. Und 80 Prozent erneuerbarer Strom sind erreichbar. Das Gutachten und die Schlussfolgerungen des Bundeswirtschaftsministeriums dürfen aber jetzt nicht zu weiteren Verunsicherungen führen, sondern müssen vielmehr für Klarheit über die energiepolitische Agenda dieser Bundesregierung sorgen.
Das heißt?
Wir brauchen jetzt keinen Neustart. Wir müssen vielmehr gemeinsam viele Prozesse innerhalb der Energiewende optimieren. Zum Beispiel kann eine bessere Synchronisierung des Ausbaus erneuerbarer Energien mit dem Netzausbau die Systemkosten erheblich reduzieren. Aber es bleibt dabei: Dekarbonisierung und Elektrifizierung benötigen hinreichende Mengen erneuerbaren Stroms und grüner Moleküle. Das stärkt im Übrigen auch strategisch unsere Energieversorgungssicherheit.
Eine Möglichkeit, Systemkosten zu senken, den Netzausbau zu beschleunigen und Netzentgelte zu drücken, wäre der Bau von mehr Freileitungen auf Übertragungsnetzebene. Niedersachsen hat sich bislang dagegen gesperrt.
Ich bin bei diesem Thema – aus eigener Erfahrung durch den Ausbau der HGÜ-Leitung Suedlink in Niedersachsen – ganz klar festgelegt: Der Erdkabelvorrang ermöglicht überhaupt erst die Akzeptanz für den Stromnetzausbau. Freileitungen – zumal in ohnehin durch die Energiewende räumlich schon erheblich betroffenen Regionen – würden so viel Widerstand auslösen, dass die Planungen und der Bau der Leitungen erheblich verzögert würden. Im Ergebnis würden wir damit keine Kosten sparen – im Gegenteil. Eine Freileitung kann noch so günstig sein. Wenn sie nicht oder erst erheblich später gebaut wird, bringt uns das nicht weiter beim Netzausbau.
Zur Systemstabilisierung würde auch mehr Flexibilität beitragen, sprich schnell hochfahrbare Kraftwerke, Speicher oder auch flexiblere Stromverbraucher. Umgesetzt wurde hier bislang recht wenig.
Es stimmt. Wir haben schon viel Zeit verloren. Wir benötigen auch hier dringend Klarheit. Wir brauchen möglichst schnell Ausschreibungen für Gaskraftwerke, die die Energieversorgung absichern. Hier sollten wir vor allem schnell das tun, was beihilferechtlich zulässig wäre. Die Notwendigkeit hat der aktuelle Versorgungssicherheitsbericht der Bundesnetzagentur erneut unterstrichen. Und wir benötigen einen möglichst einfachen, schnell umsetzbaren Kapazitätsmechanismus, der alle Flexibilitäten einschließt.
Welche Rolle sollte Ihr Bundesland hier spielen?
Niedersachsen verfügt über gute Standorte und Infrastruktur, an denen sich die Energieerzeugung weiter ausbauen ließe. Die Chance wollen wir nutzen.
Der Wasserstoffhochlauf verläuft schleppender als gedacht. Das 2030-Elektrolyseziel scheint unerreichbar zu sein. Niedersachsen gilt als Schlüsselland beim Wasserstoffhochlauf. Machen Sie sich Sorgen?
Niedersachsen ist mit seiner Lage und seiner Infrastruktur in der Tat Wasserstoffland Nummer eins. Wir wollen dieses Profil weiter ausbauen. Dazu benötigen wir den schnellen Abschluss des Wasserstoffbeschleunigungsgesetzes und pragmatischere Regeln für die Erzeugung von Wasserstoff aus allen Farben. Die Entwicklungen der letzten Monate auf der Abnehmerseite verfolge ich mit großer Sorge. Es muss uns gelingen, dass die Verfügbarkeit von Wasserstoff steigt und die Preise sinken.
"Niedersachsen ist mit seiner Lage und seiner Infrastruktur in der Tat Wasserstoffland Nummer eins."
Gleichzeitig soll es vor Borkum, also direkt vor Niedersachsens Haustür, neue Erdgasbohrungen geben. Ist das nicht kontraproduktiv?
Die Gasbohrungen befinden sich auf niederländischer Seite. Wir haben als Landesregierung die Anträge für die Richtbohrungen in den deutschen Sektor der Nordsee sehr umfangreich geprüft und ganz sicher nicht leichtfertig genehmigt. Aufgrund der Klagen der Umweltverbände haben sich Gerichte mit allen wasserrechtlichen- und naturschutzfachlichen Aspekten im Detail beschäftigt.
Uns muss aber auch klar sein: Erdgas wird immer noch benötigt. Heimische Erdgasförderung ist zwar ein überschaubarer, aber ein dennoch wichtiger Beitrag zur Versorgungssicherheit für die Wärmeerzeugung und Industrie. Und wir müssen trotz einer derzeit entspannteren Lage bei der Gasversorgung auch die Notwendigkeit im Blick behalten, unsere Bezugsquellen möglichst zu diversifizieren. Die letzten Jahre haben uns auf bittere Art und Weise gezeigt, in welche Situation uns einseitige Abhängigkeiten bringen können.
Würde eine Teilung der deutschen Strompreiszone helfen, um Kosten zu senken?
Eine Aufteilung der Bundesrepublik in mehrere Strompreiszonen mag energiewirtschaftlich wünschenswert sein. Da sind wir im Norden absolut einer Meinung. Ich halte sie nur derzeit für politisch und praktisch schwer durchsetzbar und damit wenig realistisch. Daher müssen wir diese Debatte nicht führen.
Um Kosteneffizienz geht es auch bei der neuen Anreizregulierung für Strom- und Gasnetze im sogenannten Nest-Prozess. Gegen die Vorschläge der Bundesnetzagentur laufen die Netzbetreiber jedoch Sturm.
Die Neuordnung der Netzregulierung ist ein Spagat. Die unabhängige Bundesnetzagentur muss bei ihrer Entscheidungsfindung einen Zielkonflikt ausbalancieren. Einerseits setzt sie regulatorische Rahmenbedingungen, die die erforderlichen Netzinvestitionen anreizt. Andererseits beachtet sie aber auch die Interessen der Netznutzer an einer preisgünstigen Energieversorgung. Mir ist bewusst, dass es viel Kritik aus den Stadtwerken gibt. Diese kann ich auch durchaus nachvollziehen.
"Mir ist bewusst, dass es viel Kritik aus den Stadtwerken am Nest-Prozess gibt."
Zum Schluss noch einmal grundsätzlich gefragt: Ihr Parteikollege Ulf Kämpfer hat nach den Koalitionsverhandlungen gesagt, dass in der Energiepolitik zwar viel über Kosteneffizienz geredet werde, die Parteien oft aber dann doch nicht bereit seien, die Dinge radikal anders zu denken. Teilen Sie diese Einschätzung?
Diesen Eindruck teile ich nicht. Trotz der Kritik und mancher Unzulänglichkeiten ist die Energiewende strukturell auf dem richtigen Weg. Wir dürfen die Fortschritte, die wir gemacht haben, nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen aber auch immer wieder hinterfragen, was wir konkret anpassen müssen und verbessern können. Genau das tun wir. Nur so können wir eine sichere, ressourcenschonende und bezahlbare Energieversorgung organisieren.
Das Interview führte Lucas Maier
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