DVGW-Chef: "In Deutschland reden wir schnell Themen kaputt"
Im zweiten Teil des Interviews spricht der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW), Gerald Linke, über Stand, Entwicklung und Perspektive des Wasserstoffhochlaufs in Deutschland. Das Interview wurde am 10. September geführt.
Herr Linke, Wasserstoff galt in der Ampelkoalition als Schlüsseltechnologie schlechthin. In der neuen Regierung scheint sich das geändert zu haben. Woran liegt das?
Auch in der Ampelkoalition haben wir beim Thema Wasserstoff ja eine Genese gesehen. Erst eine Ablehnung nach dem Motto: Der Versuch der fossilen Gaswirtschaft, eine Verzögerung zu bewerkstelligen. Dann die Erkenntnis: Nein, Sektorkopplung macht Sinn. Also die Aufnahme von Überschussenergie. Und dann vor allem eine Fokussierung auf den sogenannten grünen Wasserstoff, dann die späte Erkenntnis vom damaligen Wirtschaftsminister: Strom ist ein knappes Gut. In Deutschland wollen wir den bis vier- oder fünfmal größeren Molekularanteil auch noch dekarbonisieren. Wie soll das denn gehen, wenn man nicht mal den Stromanteil bis zum Jahr 2045 komplett auf erneuerbare Energie umgestellt hat?
Da kam dann die Erkenntnis: Wir müssen eben Wasserstoff importieren und offen für alle Farben sein. Das ist zunächst einmal positiv. Das heißt, die Ampel hat am Ende der Legislatur einfach den Besteckkasten weiter geöffnet. Auch in der Erkenntnis, dass uns die Zeit davonläuft. Und dieses Narrativ "Wind und Sonne machen es schon" geht einfach nicht auf. Das hätte man auch mit Dreisatz und Schulmathematik von Anfang an herausfinden können. Aber Politik läuft ja immer über Narrative.
Was macht Katherina Reiche anders?
Sie fängt mit der Analyse an: Wo stehen wir eigentlich? Und was passiert, wenn wir so weitergehen? Und wo sind vielleicht Lücken, die sich auftun? Also eigentlich eine smarte Herangehensweise, statt von Anfang an mit einem Narrativ zu starten. Aber eines ist doch klar: Diese neue Regierung ist deswegen ins Amt gekommen, weil sich viele Bürger Sorgen um den Wirtschaftsstandort machen. Das heißt, Wirtschaftlichkeit hat mehr an Gewicht gewonnen gegenüber Nachhaltigkeit und den anderen Elementen aus dem energiewirtschaftlichen Dreieck. Hilfreich bei der Betrachtung und Bewertung der komplexen Thematik des Transformationsprozesses ist sicher auch, dass die neue Wirtschaftsministerin auf einen breiten Erfahrungsschatz ihrer früheren Tätigkeit zurückgreifen kann.
Was bedeutet das für die Wasserstoffstrategie?
Alles steht auf dem Prüfstand und vor allem auch die Geschwindigkeit. Wasserstoff brauchen wir, um ans Ziel zu kommen. Die Frage ist: Mit welcher Geschwindigkeit oder Radikalität steigen wir in die Technologie ein? Sind wir immer Vorreiter, wird es teuer. Synchronisieren wir uns mit unseren Nachbarn, erzeugen wir ein bisschen vor Ort, importieren wir, und haben wir vernünftigen Ausbau – dann kann es günstiger werden.
Und das Gleiche auf der Erneuerbaren-Seite. Wenn uns die Erzeugungskapazitäten auf der Erneuerbaren-Seite davoneilen, weil dort umfangreich investiert wird, haben wir ein Mismatch zwischen Erzeugung und Abtransportmöglichkeiten. Also Bottleneck im Stromnetz. Die Kosten liegen jetzt schon in Milliardenhöhe. Warum also nicht solche Milliarden an anderer Stelle investieren, etwa in KWK-Anlagen oder den Wasserstoffausbau.
Ich halte es also für richtig, dass Katherina Reiche erst mal Tempo reduziert und sagt: Es muss alles in irgendeiner Form gut aufeinander abgestimmt werden und dann muss das Ziel anvisiert werden mit einer Strategie, die nicht nur ein Narrativ à la "Wir glauben an den Erfolg" ist, sondern mit einer Strategie, die den Erfolg gewährleistet.
Die Stimmung rund um Wasserstoff ist aktuell eher verhalten. Wie nehmen Sie das wahr?
Ein wichtiges Barometer wird der DVGW-Kongress sein, der in wenigen Tagen in Bonn stattfindet. Wasserstoff ist das dominierende Thema. Der gegenseitige Abgleich dort zwischen den Vertreterinnen und Vertretern aus Forschung, Technik, Wirtschaft und Politik ist in diesem Jahr so wichtig wie selten zuvor.
Hier und da bekomme ich zurückgespiegelt: Momentan sind wir in einem emotionalen Tal. Und, ja – das eine oder andere Wasserstoff-Projekt wird aufgekündigt. Es gibt aber auch genauso viele Projekte, für die es eine Investitionsentscheidung gibt oder wo es weitergeht. Unsere Wahrnehmung ist hier nur eine etwas getrübte, weil nach der Euphorie zum Bau eines Kernnetzes die landläufige Meinung ist, dass Monate später das komplette Kernnetz steht. Infrastruktur braucht aber Zeit.

Zur Person:
| Gerald Linke ist seit 2014 Vorstandsvorsitzender des DVGW. Der promovierte Physiker wechselte nach Stationen bei Ruhrgas und Eon an die Spitze des Branchenverbands, wo er die Transformation der Gaswirtschaft in Richtung Wasserstoff vorantreibt. 2025 wurde er zum Europa Regional Coordinator der International Gas Union ernannt. |
Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Wer genau hinschaut, sieht: Es wird im Norden an der holländischen Grenze gebaut. Das Projekt Gasunie hat schon einen großen Abschnitt seiner Leitung mit Wasserstoff befüllt. Zum Jahresende sollen 400 Kilometer mit Wasserstoff befüllt werden. Wir haben Projekte in Holzwickede, im tiefen Bayern, wo wir 100 Prozent Wasserstoff einsetzen. In Hamburg wird ein Netz mit 60 Kilometern Länge gebaut, um die Industrie zu versorgen und dann einen Großteil auch der Wärme für die Anwohnerinnen und Anwohner bereitzustellen.
Es passiert viel, wir kommen langsam, aber stetig voran. Und deswegen ist auch diese derzeitige Sommerstimmung – eine schwindende Euphorie beim Thema Wasserstoff – eigentlich nur darauf zurückzuführen, dass unsere Erwartungen zu hoch sind. In Deutschland reden wir schnell Themen kaputt, wenn sie nicht sofort eintreten. Das ist fatal. Wir dürfen nicht immer während des Laufens den Kurs ändern.
Sie haben die Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten angesprochen. Welche Partner bieten sich da an?
Auf der Stromseite gibt es nicht viele, denn Strom ist ein lokales Gut und es gibt nur geringe Austauschkapazitäten zwischen Frankreich und Deutschland. Damals hat man, beispielsweise in Baden-Württemberg, Kohlekraftwerke abgestellt, ohne Ersatz zu schaffen – ein großer Fehler. Das schlägt sich auch in der Gesamtbilanz für Deutschland nieder. Unser Land ist Stromimporteur geworden und kann nicht autark bestehen.
Auf der Molekularseite sind viele neue Partner hinzugekommen. Es gibt die sechs Korridore, die untersucht werden. Zum Beispiel der Korridor Richtung Finnland, an dem auch die baltischen Staaten beteiligt sind, wo man heute in Finnland schon praktisch bei fast 100 Prozent erneuerbarer Energie ist, also für den Eigenbedarf nicht mehr weiter ausbauen muss. Aber wirtschaftliche Chancen sieht, den Energiehunger Europas, insbesondere Deutschland, stillen zu können, indem man weitere erneuerbare Kapazitäten zubaut. Mit der überschüssigen Energie kann dann Wasserstoff erzeugt werden und nach Deutschland exportiert werden. Ein interessantes Modell.
Und so blicke ich auch auf die Alternativen: Nordafrika zum Beispiel. Dort gibt es mittlerweile Projekte großer deutscher Händler, die versuchen, Erzeugungskapazitäten vor Ort aufzubauen.
Wie sieht es mit Spanien aus?
Ein Korridor Richtung Spanien wäre sinnvoll. Dort gibt es großes Interesse, mithilfe von Sonne erzeugten Wasserstoff nach Deutschland zu bringen. Deutschland ist ein hochpreisiger Markt und deswegen interessant. Zudem können wir sicherlich auch einfacher Abnahmegarantien geben als andere Länder. Zurückführen lässt sich dies auf unsere im europäischen Vergleich nach wie vor sehr bedeutenden Industriestandorte.
Außerdem wird Wasserstoff auch über verschiedene Derivate nach Deutschland gebracht werden. Es ist gut und wichtig, dass verschiedene Ansätze verfolgt werden. Es zeichnen sich beispielsweise Ammoniak-Projekte ab, bei denen Wasserstoff per Schiff nach Deutschland gebracht wird. Manche Experten befürworten diese Lösung, andere die Pipelinelösungen, also die Korridore. Was wir derzeit benötigen, ist auch hier eine gewisse Ernsthaftigkeit und Realismus.
Wie positionieren Sie sich zur CCS-Diskussion?
Auch die Diskussion zum Thema CO2 hilft uns auf der Wasserstoffseite nicht. Oft heißt es: "Naja, vielleicht dekarbonisieren wir dann doch am Ende." Nein, wir müssen am Anfang dekarbonisieren und Wasserstoff durch die Röhre schicken, und zwar zu allen Kundinnen und Kunden. Und nur in Ausnahmefällen, wo CO2 unabhängig von der Zulieferung der Energie anfällt, wie beispielsweise bei der Zementherstellung, CCS einsetzen. In diesen Fällen kann man tatsächlich im großen Stil Klimaeffekte heben, in dem man dieses CO2 abtransportiert.
Wir dürfen uns nicht verstolpern, jetzt plötzlich wegen einer neuen Idee wieder die Reihenfolge ändern oder ins Wanken geraten. Alles braucht seine Zeit. Energiewende ist eben ein Marathonlauf, kein Sprint.
Das Interview führte Lucas Maier



