"Transformation bedeutet auch, die eigene Komfortzone zu verlassen"
Vor gut einem Jahr hat RKU.IT mit der "NextGen"-Plattform den Einstieg in eine neue Generation energiewirtschaftlicher IT-Systeme angekündigt. Ziel ist es, Stadtwerken und Netzbetreibern eine standardisierte, aber zugleich flexible Grundlage für die Digitalisierung ihrer Prozesse zu bieten. Inzwischen sind die ersten Kunden live gegangen, weitere Rollouts stehen unmittelbar bevor. Im Gespräch mit der ZfK zieht Timo Dell, Mitglied des Management Boards von RKU.IT GmbH, eine Zwischenbilanz: Er berichtet von den Erfahrungen der ersten Projekte, den größten Herausforderungen in den Stadtwerken und den Perspektiven für Automatisierung, KI und Smart Metering.
Herr Dell, vor gut einem Jahr haben Sie den Aufbau der "NextGen"-Plattform vorgestellt. Wie sieht die Akzeptanz heute aus?
Die Resonanz ist sehr positiv. Wir haben viele Anfragen von Stadtwerken und Energieversorgern in beiden beziehungsweise in allen drei Marktrollen erhalten. Inzwischen sind in den beiden Marktrollen, also Netz und Vertrieb, acht Kunden live gegangen. Nach unseren Recherchen sind wir derzeit der einzige Anbieter, dem das gelungen ist.
Was waren die größten Herausforderungen bei der Migration auf Ihre Plattform "NextGen"?
Rückblickend hat sich gezeigt: Die eigentliche Herausforderung war nicht die Durchführung der Transformation selbst, sondern die Projektmüdigkeit vieler Stadtwerke. Zahlreiche regulatorische Anforderungen – vom Redispatch 2.0 über Smart Meter bis zum 24-Stunden-Lieferantenwechsel – belasten die Teams. Da zusätzlich ein großes Transformationsprojekt zu stemmen, ist schwierig.
Hinzu kommt, dass alle Beteiligten die geforderte Standardisierung umsetzen müssen. Auf Managementebene ist der Wille vorhanden, Prozesse zu harmonisieren. In den Fachworkshops zeigt sich aber oft eine gewisse Trägheit, die eigene Komfortzone zu verlassen. Gleichzeitig hören wir aber immer wieder den Wunsch, trotz Standardisierung die Individualität des eigenen Stadtwerks zu bewahren.
Welche Erfahrungen haben Sie im laufenden Betrieb gesammelt, und was lernen Sie daraus für die nächsten Rollouts?
Ein zentrales Learning ist, dass jedes technische Projekt unbedingt von einem Organisations- und Changeprojekt begleitet werden sollte. Standardisierung und Automatisierung verändern Abläufe – manche Tätigkeiten entfallen, dafür entstehen neue Aufgaben in anderen Teams. Das bedeutet, dass Rollen neu zugeschnitten und Mitarbeitende neue andere Aufgaben wahrnehmen müssen.
Wir empfehlen unseren Kunden ausdrücklich, externe Change-Expertise einzubinden. Diese Erfahrung haben uns die ersten Projekte gespiegelt. So lassen sich Widerstände abbauen und die Akzeptanz für neue Prozesse deutlich erhöhen.
Ihre Plattform bindet auch Drittanwendungen ein. Welche Partnerlösungen haben sich bislang bewährt, und wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Genau dafür haben wir unsere Integrationsschicht geschaffen. Stadtwerke müssen die Anbindung nicht bei jedem Projekt neu aufbauen, sondern können Standards nutzen und dennoch zusätzliche Anwendungen andocken, die ihre individuelle Ausprägung abbilden. Jedes Stadtwerk hat eigene Anforderungen – ob im Kundenservice, in der Netzsteuerung oder bei Automatisierungsaufgaben – und diese lassen sich durch spezialisierte Lösungen ergänzen, ohne den Standard zu verlassen.
Wir haben inzwischen rund 20 Partner integriert, etwa in den Bereichen CRM, Kundenportale, IoT, KI und Security. Handlungsbedarf sehen wir vor allem dort, wo die Anforderungen besonders dynamisch wachsen, etwa bei Automatisierung, KI und Security. Hier wird unser Partnernetzwerk in den kommenden Jahren weiterwachsen.
Sie binden Kunden außerdem aktiv in die Weiterentwicklung der Plattform ein. Können Sie Beispiele nennen, wo Rückmeldungen aus der Community zu Änderungen oder Erweiterungen geführt haben?
Wir greifen Impulse aus den Communities regelmäßig auf und überführen sie in den Standard, wenn sie für viele relevant sind. Ein Beispiel ist ein Dashboard für das Energiedatenmanagement und den Messstellenbetrieb: Der Wunsch nach mehr Übersichtlichkeit kam aus einem Kundenprojekt und hat sich dann schnell bei anderen bestätigt. Heute haben Stadtwerke bei uns mit einem Blick die Kontrolle über ihre EDM-Prozesse und können bei Bedarf tiefer in die Details einsteigen.
Ähnlich war es bei Anpassungen im Ableseprozess oder beim Rollout intelligenter Messsysteme. Diese Rückmeldungen zeigen uns: Standardisierung funktioniert am besten, wenn die praktischen Erfahrungen aus den Häusern berücksichtigt werden. So entsteht ein Standard, der nicht von oben übergestülpt wirkt, sondern die Individualität der Stadtwerke aufgreift.
Künstliche Intelligenz und Automatisierung sind Schlagworte in der Branche. Wo setzen Sie diese Technologien heute bereits ein, und welche Weiterentwicklungen planen Sie?
Wir arbeiten schon seit mehr als sechs Jahren mit Robotic Process Automation (RPA) und haben inzwischen über 300 Bots entwickelt – von kleinen Automatisierungen bis hin zu komplexen Anwendungen. Viele davon sind in "NextGen" direkt integriert.
Seit rund einem Jahr nutzen wir außerdem Large-Language-Models, die speziell auf die Energiewirtschaft trainiert sind. Gemeinsam mit Partnern wie "DeepSearch" testen wir, wie sich unstrukturierte E-Mails automatisch analysieren und die relevanten Informationen direkt ins System übertragen lassen. Der gesamte Prozess läuft ohne Eingriff eines Sachbearbeiters ab – ein Gewinn sowohl für die Effizienz als auch für die Endkundenzufriedenheit.
Unser Ziel ist es nicht, Menschen durch Technologie zu ersetzen. Wir sehen vielmehr eine Verlagerung von Aufgaben: Repetitive Tätigkeiten fallen weg, dafür steigt der Bedarf an Projektmanagement, Analyse und Steuerung. Mitarbeitende übernehmen also wertschöpfendere Aufgaben, während die Systeme Routinearbeiten erledigen.
Der Lieferantenwechsel in 24 Stunden hat die Branche stark beschäftigt. Wie lief die Umstellung bei Ihnen, und was erwarten Sie für den Gasmarkt?
Technisch konnten wir den Prozess umsetzen. Auch wenn die Auslieferung der Softwarelösungen stellenweise optimierungswürdig war. Die eigentlichen Probleme entstanden bei der Nachbearbeitung: Automatisierte Marktprozesse wurden bei einigen Stadtwerken massenhaft von Marktpartnern abgelehnt, was zu einem enormen manuellen Nachbearbeitungsaufwand führte.
Volkswirtschaftlich stellt sich die Frage, welchen Nutzen ein Wechsel in 24 Stunden überhaupt hat. Wir befürchten, dass sich ähnliche Schwierigkeiten im Gasmarkt wiederholen. Sinnvoll wäre es, die Umsetzungsfristen realistischer zu gestalten und den Austausch zwischen Bundesnetzagentur, Verbänden und Marktteilnehmern zu intensivieren.
Sie gehören zu den wenigen Anbietern der Smart-Meter-Gateway-Administration. Wie entwickelt sich die Nachfrage, und wo liegen die Herausforderungen?
Wir betreiben aktuell über 20.000 produktiv verbaute Gateways und haben unser Portfolio um die Gateway-Administration als Dienstleistung erweitert. Viele Stadtwerke lagern diese Aufgabe inzwischen aus, weil die eigenen Ressourcen nicht ausreichen.
Die größte Hürde bleibt jedoch die Wirtschaftlichkeit des Rollouts. Es geht nicht allein um Technik oder Konnektivität, sondern auch um die Organisation und Logistik des Rollouts.
Wie sehen die nächsten Schritte bei Ihnen aus?
Wir sehen die "NextGen"-Plattform als Basis für die Digitalisierung von Stadtwerken und Netzbetreibern: Mit standardisierten Prozessen, die zuverlässig funktionieren, und gleichzeitig genug Flexibilität für individuelle Anforderungen.
Bis Ende dieses Jahres gehen drei weitere Kunden live, 2026 sind acht geplant und 2027 zwölf. Damit sind unsere Projektteams bis 2027 voll ausgelastet. Für die Stadtwerke bedeutet das, dass sie eine verlässliche Grundlage haben, um regulatorische Anforderungen zu erfüllen und neue Geschäftsmodelle umzusetzen.


