Digitalisierung bei Stadtwerken: "Erst die Prozesse, dann die Technologie"

Energiewende, Fachkräftemangel und heterogene IT-Landschaften stellen Stadtwerke vor große Herausforderungen. Wie Prozessoptimierung und intelligente Systemverknüpfung den Weg zur erfolgreichen Digitalisierung ebnen, erklären Holger Lehmann, Prokurist und Mitglied der Geschäftsleitung beim Beratungsunternehmen Processline und Klaus Zabel, Head of Energy & Environment bei Lufthansa Industry Solutions.

Processline als Organisations- und Prozessberatung hat ihren Schwerpunkt auf Organisationsentwicklung und Change Management in Unternehmen gelegt, die Lufthansa Industry Solutions ist ein Teil der Lufthansa Group und spezialisiert auf IT-Lösungen für verschiedene Branchen, darunter die Energiewirtschaft.

Herr Lehmann, Herr Zabel, was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für Stadtwerke bei der Digitalisierung?

Klaus Zabel: Wenn man von der High-Level-Perspektive ausgeht, ist der gesamte Umbau des Energiesystems der zentrale Treiber. Das Thema Dekarbonisierung, der Ausbau erneuerbarer Energien, ganz neue Energieträger und Infrastrukturen entstehen, flankiert werden diese Schauplätze vom Dauerthema "Regulatorik" welches die Branche stetig begleitet und vor allem – auch im Sinne der Digitalisierung – herausfordert.  Hinzu kommt der Fachkräftemangel – die Unternehmen müssen effizienter werden und schauen, dass sie ihr Know-how nicht verlieren. Letztlich zahlen die Leistungen aus der Prozess- und IT-Beratung auf all diese Herausforderungen ein.

Holger Lehmann: Tatsächlich geht der technologische Wandel auch immer mit organisatorischen und kulturellen Veränderungen einher. Bei vielen Stadtwerken finden wir historisch gewachsene Strukturen vor, die Jahre alt sind. Um die genannten Herausforderungen anzugehen, ist das oftmals mit einem Wandel oder Musterwechsel verbunden und kann eine große Herausforderung sein. Dabei stellt der notwendige Dialog zwischen den unterschiedlichen Generationen, die in einer Organisation arbeiten, einen zunehmenden Erfolgsfaktor dar. 

Können Sie konkrete Beispiele für diese Herausforderungen nennen?

Zabel: Als KRITIS-Unternehmen ist die Cybersicherheit natürlich ein zentrales Thema. Grundsätzlich ist das nichts Neues, aber die Bedrohungslage hat sich in den letzten Jahren deutlich verschärft. Gleichzeitig kommen neue Technologien ins Spiel, wie Sensorik und IoT-Steuerung, die in die bestehenden Systemlandschaften zu integrieren sind. Dies sind neue Einfallstore die zusätzlich gesichert werden müssen.

Außerdem finden wir bei Stadtwerken oft heterogene Systemlandschaften vor: Das ERP- als Stammsystem, ein eigenes Abrechnungssystem, in manchen Fällen ein darauf aufbauendes CRM-System gepaart mit Kundenportalen oder separaten Energiedatenmanagementsystemen. Hierdurch entstehen Datensilos, was Medienbrüche und ineffiziente Prozesse zu Folge hat. Stadtwerke werden immer mehr zu datengetriebenen Unternehmen, so dass auch hier die Anforderungen stetig steigen. Es gilt, die dezentral gehaltenen Daten miteinander zu vernetzen und systemübergreifend zu nutzen, beispielsweise durch § 14a EnWG. Die aktuell herrschenden Datensilos müssen also aufgelöst werden, bevor man sich Themen wie KI widmet oder neue Systeme einführt.

Wie geht man die digitale Transformation zu Beginn an, um möglichst viele Fehler zu vermeiden?

Lehmann: Wir starten stets mit der Warum-Frage? Aus weiteren Fragestellungen leitet sich die Change-Story ab, die den Betroffenen verdeutlicht, dass die Transformation notwendig ist und keinen Selbstzweck darstellt. Grundlegend steigen wir nach einer Analyse dann oft mit den Prozessen ein. Und an dieser Stelle hängt es vom aktuellen Stand des Stadtwerks ab. Wir schauen: Welche Prozesse gibt es und wie ist das Prozessverständnis bei den Mitarbeitenden? Gibt es bereits dokumentierte Prozesse? Oft erleben wir, dass Mitarbeitende sagen: "Das müsste schon längst geändert werden." Durch die Einbindung der Mitarbeitenden in die Prozessarbeit, bringen diese ihr Know-how ein und gestalten die entwickelten Prozesse zu ihren eigenen Prozessen und nicht zu unseren. Wir denken dabei gleich in die Zukunft und bleiben nicht beim Status quo, sondern schauen: Wo gibt es Prozess- oder Medienbrüche und wie viele IT-Systeme sind eigentlich in einem Prozess beteiligt? Was müsste anders sein? Das ist der Punkt, wo wir Optimierungspotenzial identifizieren.

Zabel: Dann knüpfen wir an: Wenn Prozesse, Ineffizienzen und Lücken dargestellt sind, leiten wir Maßnahmen ab. Welche Systeme unterstützen heute die entsprechenden Prozesse? Wo fehlt IT-Unterstützung? Das erkennen wir mit einem sogenannten IT-Bebauungsplan. Der zeigt auf, wie Prozesse durch welche Systeme unterstützt werden und welche nicht. So können wir Lücken durch bestehende Systeme schließen oder Systeme intelligent verknüpfen, zum Beispiel durch Robotics Process Automation.

Haben Ihre Kunden nach Ihren Beratungsprojekten mehr Systeme oder weniger?

Zabel: Die Anzahl der Stammsysteme bleibt in der Regel unverändert. Diese stehen meist nicht zur Disposition. Wir sorgen jedoch dafür, dass einzelne Insellösungen zu einer integrierten Systemlandschaft werden, zum Beispiel durch Verknüpfungssysteme als Bindeglied, neue Integrationsplattformen oder weitere Reporting-Systeme auf Datenplattformen; so, dass eine systemübergreifende Datenverfügbarkeit oder auch -optimierung entstehen kann.

Auch eine Anreicherung durch kleinere Software-as-a-Service-Lösungen kann einen spürbaren Nutzen erzeugen. Solche Optimierungen bringen vor allem mehr Flexibilität, um beispielsweise schneller auf Anforderungen reagieren zu können – einzelne  Services können schnell abgeschaltet oder kleinere Dienste eingekauft werden.

Lehmann: Ein praktisches Beispiel: Wir hatten einen Kunden mit vier verschiedenen Ticketsystemen, die sich über die Zeit etabliert hatten. Das gemeinsame Projekt hat das aufgedeckt und zur Konsolidierung der Systeme geführt. Der Weg dorthin war genauso eine Kombination aus organisatorisch-kultureller als auch IT-Veränderung. Denn es liegt ja auf der Hand: Wenn man Redundanzen findet, hat man Potenzial, ja schon fast die Pflicht, zur Reduzierung.

Gibt es typische Probleme, die Sie bei Stadtwerken immer wieder antreffen?

Zabel: Ein Klassiker ist die Datenqualität, besonders bei Kundenstammdaten für spartenübergreifende Prozesse. Wenn ein Kunde im Callcenter anruft und eine gesamte Vertragsübersicht haben möchte, ist das aus unserer Sicht ein Bereich, wo Stadtwerke oft Verbesserungspotenzial haben. Der Kunde bezieht beispielhaft Leistungen, wie Energie, ÖPNV und ist Gast im Schwimmbad, alles Leistungen von ein und demselben Anbieter – dem Stadtwerk. Und so möchte der Kunde auch gesehen werden, nämlich ganzheitlich. Zumal er dies von Unternehmen aus anderen Lebens- und Leistungsbereichen auch so gewohnt ist.

Aktuell kann dies durch die Fragmentierung im Hintergrund sowohl operativ als auch systemisch nur selten abgebildet werden. Das ist eine große Herausforderung für die Kundenbetreuung.

Wie löst man dieses Problem?

Zabel: Man muss nicht von vorne anfangen. Wir schaffen eine Schicht für den Kunden mit einer eindeutigen Kundennummer. Je nach Geschäftsvorfall wird im System erkannt, um welchen spartenbezogenen Prozess es sich handelt und so im Hintergrund der richtige Folgeprozess angestoßen. Dabei findet auch iterativ die Bereinigung der Stammdaten statt. Das Stichwort heißt "360-Grad-Kundensicht" mit regelbasierter Stammdatenbereinigung und intelligente Zwischenschichten, um die Backend-Systeme zu bedienen.

Wie weit sind die Stadtwerke bei diesem Transformationsprozess?

Zabel: Es gibt Stadtwerke, bei denen wir schon vor fünf Jahren angefangen haben, diesen innovativen Ansatz umzusetzen. Das waren vorstandsgetriebene Projekte. Andere haben diesen Prozess noch nicht gestartet. In den letzten Monaten mehren sich die Gespräche auf Geschäftsführungsebene und wir erkennen den Willen und den Handlungsdruck, um wettbewerbsfähig und attraktiv zu bleiben. Damit verbunden kommt das Change Management ins Spiel: Kulturelle und organisatorische Veränderungen müssen begleitet werden.

Sie sprechen den Kulturwandel an. Was verändert sich konkret, wenn sich die IT ändert?

Lehmann: Wir betrachten eine Organisation nach fünf Aspekten: Strategie, Organisation, Prozesse, Kultur und IT. Wenn Sie in einem Bereich Anpassungen vornehmen, müssen die Auswirkungen auf alle anderen Aspekte betrachtet werden. Wenn Sie ein neues System einführen, bedeutet das für die Mitarbeiter eine große Veränderung in ihrem Arbeitsalltag. Das kann Ängste und Widerstände erzeugen. Durch Mitgestaltung am Projekt können diese abgebaut und die Energie in etwas Positives umgewandeltwerden – das sind kulturelle Aspekte.

Zabel: Ein historisches Beispiel: Bei einem alteingesessenen Energieversorger gab es früher nur "Kassenzeichen", nicht den Begriff "Kunde". Das Kassenzeichen wurde abgerechnet. Diese Begriffsveränderung hin zum Kunden, zum Produkt, das sind für mich kulturelle Merkmale. Wenn jemand das noch nicht verinnerlicht hat, wird man diese Menschen schwer verändern können.

Wie stehen Stadtwerke zum Thema KI? Gibt es Ängste oder auch positive Entwicklungen?

Zabel: Grundsätzlich gibt es positive Entwicklungen, aber noch lässt der Durchbruch auf sich warten. Auf operativer Ebene gibt es viele Initiativen und Proof-of-Concepts und auf strategischer Ebene Verankerungen mit der Digitalisierungsstrategie. Eine Erkenntnis ist oft ernüchternd, da feststellt wird, dass für das angestrebte Ergebnis die Datenqualität oder die richtige Datenaufbereitung nicht vorhanden ist.

Ein Dilemma, was zunächst gelöst werden muss. Aber es lohnt sich, denn die energiewirtschaftlichen Prozesse bergen viele lohnende beziehungsweise werthaltige KI-Use-Cases, die Effizienzsteigerungen mit sich bringen. Neben dem Netzbereich als Einsatzgebiet für KI sehen wir vor allem im Bereich der Kundenserviceprozesse und in der Systemsteuerung großes Potential, zum Beispiel die Anomalieerkennung bei Messdaten.

Lehmann: Wenn wir aus der organisationalen Perspektive die vier Säulen: Wissen, Können, Wollen, Tun betrachten, dann sollte sichergestellt werden, dass die Mitarbeitenden das notwendige Wissen für KI haben und wissen, wofür sie eingesetzt werden kann. Das bedeutet noch nicht, dass sie es anwenden können und wollen, beziehungsweise es dann auch tun. Letztendlich ist KI in einem Stadtwerk in den IT-Systemen enthalten und auch hier zeigt sich wieder das Zusammenwirken von Struktur und Kultur.

Oft mangelt es Stadtwerken an Zeit für die Transformation, welche Möglichkeiten gibt es, trotz alledem etwas zu tun?

Lehmann: Grundsätzlich muss immer das "Warum" gut formuliert sein, damit auch jeder den Nutzen eines Wandels sieht. Führungskräfte sind die Treiber für Veränderungs- und Lernprozesse. Man muss schauen, an welchen Stellen man in der Operativen etwas kompensieren kann, wo man auslagert oder sich temporär jemanden dazuholt – immer mit der Kundenbrille, um den Mehrwert klar in den Fokus rücken zu können.  

Zabel: Wie Holger Lehmann bereits anführte, Entscheidungen kommen von der Führungsebene. Ein nach vorne gerichtetem Blick und der Wille nach Veränderung ist hier entscheidend. Natürlich lassen sich nicht alle Dinge gleichzeitig angehen, aber wenn wir von Ressourcenknappheit sprechen, ist die Automatisierung von Prozessen natürlich ein absolut lohnenswerter Schritt, um die damit freiwerden Mitarbeiterressourcen wertbringend einzusetzen. 

Lehmann: Quick Wins ermöglichen. Wenn wir etwas mit geringem Aufwand und hoher Tragweite umsetzen können, verdeutlicht das: Wir haben etwas gestartet und nach kurzer Zeit einen Mehrwert für das Unternehmen erreicht. 

Noch eine letzte Frage: Was sollten Stadtwerke bei der Digitalisierung unbedingt beachten?

Zabel: Nicht bei der Technologie anfangen, sondern bei den Prozessen. Die Basics der Datensilos und Systemgrenzen müssen gelöst werden, bevor man mit KI oder neuen Systemen anfängt. Gleichzeitig ist Offenheit für innovative Themen wichtig, nicht an alten Dogmen festhalten. Es geht darum, Veränderung als Gewinn zu sehen, nicht als Gefahr.

Lehmann: Wir wollen alle Mitarbeitenden in das Transformationsvorhaben einbinden, auch die "Bewahrer", die Veränderungen gegenüber möglicherweise skeptisch gegenüberstehen. Sie bewahren im wahrsten Sinne etwas und oft steckt ein Erfahrungsschatz dahinter, der immensen Nutzen für das Projekt darstellt. Es wäre wenig hilfreich für die Weiterentwicklung der Organisation, sie nicht einzubinden.

Das Interview führte Stephanie Gust

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