Brain Drain stoppen – Strategisches HR für Energieversorger

Bis 2040 gehen 70 Prozent der Beschäftigten in Rente und steigen aus – mitten in der Energiewende und im digitalen Wandel der Unternehmenswelt. Wie Organisationen in einer volatilen Umgebung stabil bleiben, erklärt Personalexpertin Gisa Biber: Mit Prognosen und strategischer Planung werden Engpässe frühzeitig sichtbar. So entstehen maßgeschneiderte Entwicklungswege statt Standardkarrieren – und es wird deutlich, dass die Branche eine authentische und veränderungsbereite Unternehmenskultur braucht.

Bei Utility Partners ist Gisa Biber für HR-Prozesse verantwortlich.

Frau Biber, Sie warnen vor einem "Brain Drain" in der Energiewirtschaft. Was genau bedeutet das – und weshalb ist es so bedrohlich?

Brain Drain umschreibt den Verlust beziehungsweise Weggang von Wissen in Unternehmen. Dieser ist eine der größten Bedrohungen für die Energiewende. Wieso? Bis 2040 werden rund 70 Prozent der heutigen Arbeitnehmenden der Branche altersbedingt ausscheiden – schon heute fehlen bereits etwa 500.000 Fachkräfte. Das ist jedoch nicht nur ein quantitatives Problem. Mit den geburtenstarken Jahrgängen verlässt jahrzehntelang aufgebautes Know-how und Erfahrung die Unternehmen.

Das ist nur die eine Seite: Gleichzeitig verändern Digitalisierung und KI die Berufsbilder dramatisch, und Start-ups sowie Tech-Unternehmen mit moderner Unternehmenskultur konkurrieren um dieselben Talente. Diese Entwicklungen gefährden insgesamt nicht nur den Betrieb der Energieversorgungsunternehmen, sondern die Energiewende als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Wenn der Verlust von Wissen so gravierend ist – wie können Unternehmen gegensteuern, sobald sie das Problem erkannt haben?

Hier hat sich die sogenannte Funktionsaufwandsanalyse bewährt. Sie bildet nicht nur die aktuelle Personal- und Kapazitätssituation ab, sondern prognostiziert auf Basis von Trends den Bedarf der kommenden fünf Jahre. Es gilt, in einem standardisierten Vorgehen zunächst die tatsächliche Kapazität an Mitarbeitenden zu ermitteln, verschiedene Entwicklungstrends zu analysieren und dann die verfügbaren Ressourcen mit den zu erwartenden Arbeitsaufwänden zu vergleichen.

Dabei fließen geplante Projekte ebenso ein wie absehbare Veränderungen durch Digitalisierung oder neue gesetzliche Anforderungen. So können Unternehmen Engpässe frühzeitig erkennen und entsprechend reagieren – meist mit einer Prognose oder einer Empfehlung für Neueinstellungen oder Umstrukturierungen.

"Erfahrene Monteure können zusätzlich auf digitale Kompetenzen geschult werden, sodass beide Welten verbunden werden. So entstehen maßgeschneiderte Entwicklungswege statt Standardkarrieren."

Die Funktionsaufwandsanalyse führt also zu einer strategischen Personalplanung. Das klingt zunächst theoretisch – wie funktioniert das in der Praxis?

Strategische Personalplanung beginnt, wie erwähnt, zunächst mit einer sorgfältigen Bestandsaufnahme: Welche Kompetenzen sind vorhanden, wo bestehen Engpässe, welche Positionen sind kritisch? Dafür braucht es eine systematische Analyse der vorhandenen Skills im Unternehmen – die Einsatzflexibilität von Beschäftigten und deren zentrale Bedeutung für Kernaufgaben. Darauf aufbauend gilt es, Entwicklungswege zu schaffen, die möglichst flexibel für Unternehmen und Mitarbeitende sind und individuell auf die jeweilige Situation angepasst werden.

Das heißt, Nachfolgeplanung und Umschulung bauen aufeinander auf. Können Sie ein Beispiel nennen?

Beispielhaft könnte das so aussehen: In einem Stadtwerk stellen wir fest, dass der einzige Experte für Fernwärme-Hydraulik in drei Jahren in Rente geht. Gleichzeitig steht der Ausbau des Fernwärmenetzes an. Die passenden Anforderungen können nun über eine externe Nachbesetzung gedeckt werden, oder man richtet den Blick nach innen und findet eventuell Nachwuchskräfte aus anderen Bereichen, die entsprechend umgeschult werden können. Parallel könnte man weitere Mitarbeitende aus unterschiedlichen Bereichen in Teilaspekten ausbilden.

Oder nehmen Sie die Digitalisierung der Zählerablesung: Hier brauchten wir nicht nur IT-Know-how, sondern auch Kenntnisse über den Messstellenbetrieb. Erfahrene Monteure können zusätzlich auf digitale Kompetenzen geschult werden, sodass beide Welten verbunden werden. So entstehen maßgeschneiderte Entwicklungswege statt Standardkarrieren.

Sie haben zudem auf starre Strukturen hingewiesen, die die Branche zusätzlich hemmen. Inwiefern sind diese so problematisch?

Über Jahre bewährte, aber eingefahrene Strukturen mit vorgegebenen Aufgaben, klaren Hierarchien und kaum individualisierbaren Karrierepfaden erweisen sich unter den neuen Marktbedingungen zunehmend als hinderlich – die Veränderungen der Außenwelt sind zu schnell für starre Strukturen.

Also: Standardisierte HR-Prozesse, die für planbare, langfristige Bedarfe geschaffen wurden, werden den Anforderungen einer dynamischen, oft unvorhersehbaren Energiewelt nicht mehr gerecht. Große Infrastrukturprojekte geraten durch Personalmangel zeitlich kritisch oder stocken sogar.

"Identifikation, Bindung und Zusammenarbeit sind immaterielle, aber entscheidende Wettbewerbsfaktoren als Arbeitgeber. Ohne die Integration der Mitarbeitenden sind solche Umstrukturierungen nur Veränderungen auf dem Papier."

Es braucht also mehr Flexibilität. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden? Suchen sie nicht gerade in sich wandelnden Zeiten nach Sicherheit?

Ganz genau. Es ist also wichtig, auf beide Anforderungen eingehen zu können. Da helfen klare Strukturen innerhalb des Unternehmens, die gleichzeitig dynamische Rollenmodelle oder projektbasiertes Arbeiten unterstützen. Auch die Möglichkeit, Teams cross-funktional aufzubauen, hilft, einerseits Stabilität und gleichzeitig Flexibilität zu schaffen.

Das bedeutet: Unternehmen brauchen mehr Widerstandskraft. Müssen sie also resilienter werden?

Teils. Lassen Sie mich hier wichtige Punkte ergänzen: Resilienz im klassischen Sinne sehe ich vor allem als Widerstandsfähigkeit. Das klingt aber unter Umständen auch nach einem Bollwerk, das Veränderungen zwar standhält, sich aber nicht anpasst. Wie oben ausgeführt, ist das nicht zielführend. Vielmehr geht es darum, als Unternehmen unerwartete Veränderungen nicht nur auszuhalten, sondern aktiv mit ihnen zu agieren.

Hier können wir drei Faktoren miteinander verweben, um diese Widerstandsfähigkeit und gleichzeitige Agilität zu erreichen: Die oben zitierte Funktionsaufwandsanalyse dient als grundlegendes Steuerungsinstrument, aus dem sich Zahlen und Maßnahmen ableiten. Darauf baut strategische Personalplanung und Talentmanagement auf. Dies sind beides große Veränderungen, die die Unternehmen mittragen müssen.

"Der Mensch als aktiv Mitgestaltender steht im Zentrum – als Garant für Innovationskraft und Zukunft."

Strategische Planung allein reicht also nicht. Wie gelingt es, die Beschäftigten einzubinden?

Ein wichtiger Punkt. Das bedarf einer authentischen Kultur und Werteorientierung. Diese setzt den Rahmen dafür, dass Veränderungen von der Belegschaft nicht nur angenommen, sondern mitgetragen und gelebt werden. Identifikation, Bindung und Zusammenarbeit sind immaterielle, aber entscheidende Wettbewerbsfaktoren als Arbeitgeber. Ohne die Integration der Mitarbeitenden sind solche Umstrukturierungen nur Veränderungen auf dem Papier.

Viele Unternehmen setzen hier auf agiles Arbeiten. Ist das die Lösung?

Bei Umstrukturierungen werden oft neue Konzepte wie agiles Arbeiten ins Spiel gebracht. Das darf jedoch nicht zum Selbstzweck werden. Entscheidend ist, dass wir flexible Strukturen schaffen, die echten Mehrwert bringen: dynamische Rollenmodelle, die es Mitarbeitenden erlauben, temporär oder dauerhaft neue Aufgaben zu übernehmen, und selbstorganisierte Teams mit wechselnden Besetzungen. 

Aber – und hier trennt sich in der Umsetzung die Spreu vom Weizen – diese Flexibilität braucht klare Werte als Orientierungsrahmen. Gerade wenn Aufgaben und Rollen in Bewegung geraten, bieten gelebte Werte Halt und Leitplanken für Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit.

Solche Veränderungen greifen tief in die Unternehmenskultur ein. Lässt die sich überhaupt schnell verändern?

Neue Werte lassen sich nicht verordnen – das sei vorangestellt. Echte Kulturveränderung braucht Zeit und vor allem partizipative Prozesse. Wir beginnen mit einer Kulturdiagnostik durch Interviews und Workshops, um zu verstehen, welche Werte tatsächlich gelebt werden und wo Spannungsfelder zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestehen.

Dann entwickeln wir gemeinsam mit den Mitarbeitenden neue Werte und benennen konkrete Verhaltensanker: Was bedeutet "Transparenz" im Arbeitsalltag? Nachhaltige Integration gelingt durch regelmäßige Reflexions- und Feedbackschleifen sowie wertebasierte Entscheidungsprozesse. Ein menschenzentrierter Ansatz ist also entscheidend.

Menschenzentriert – was heißt das für den Alltag in den Unternehmen?

Die Energiewende wird nicht von Algorithmen, sondern von engagierten, kreativen und motivierten Menschen umgesetzt. Der Schlüssel liegt darin, diese Menschen zu befähigen, aktiv an Veränderungen mitzuwirken, ihnen Raum für Gestaltung und eigene Entwicklung zu geben und ihre Stärken sinnvoll einzusetzen. 

Wer strategische Personalplanung mit partizipativer Kultur- und Werteentwicklung verknüpft, schafft Widerstandsfähigkeit und die Voraussetzung, um Herausforderungen zu begegnen und zu wachsen. Der Mensch als aktiv Mitgestaltender steht im Zentrum – als Garant für Innovationskraft und Zukunft.

Das Interview führte Boris Schlizio

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